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Die Gabe des Evangelisten

Definition und Wortbedeutung

Der Begriff „Evangelist“ stammt vom griechischen Wort „εὐαγγελιστής“ (euangelistḗs), was wörtlich „Verkündiger guter Nachrichten“ oder „Bringer froher Botschaft“ bedeutet. Es leitet sich vom Verb „εὐαγγελίζομαι“ (euangelízomai) ab, was „eine gute Nachricht verkünden“ bedeutet, und dieses wiederum vom Substantiv „εὐαγγέλιον“ (euangélion), was „gute Nachricht“ oder „frohe Botschaft“ bedeutet – der Begriff, der später für „Evangelium“ verwendet wurde.

Ein Evangelist ist somit jemand, der die gute Nachricht von Jesus Christus verkündet und Menschen zum Glauben an ihn führt. Im Gegensatz zum modernen Verständnis, das sich oft auf Großveranstaltungen konzentriert, bezieht sich der neutestamentliche Begriff auf jeden, der das Evangelium effektiv kommunizieren kann.

Biblische Grundlage

Der Begriff „Evangelist“ als Bezeichnung für eine spezifische Gabe oder Rolle wird im Neuen Testament nur dreimal explizit erwähnt:

  • Epheser 4,11: „Und er hat die einen als Apostel gegeben, andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer.“
  • Apostelgeschichte 21,8: Philippus wird als „der Evangelist“ bezeichnet, was auf seine besondere Begabung und seinen Dienst hinweist.
  • 2. Timotheus 4,5: Paulus fordert Timotheus auf, „das Werk eines Evangelisten“ zu tun.

Obwohl der Begriff selbst selten vorkommt, ist die Tätigkeit des Evangelisierens – die Verkündigung des Evangeliums – ein zentrales Thema des Neuen Testaments. Jesus selbst gab den Auftrag dazu im Missionsbefehl (Matthäus 28,19-20).

Historische Entwicklung und Bedeutung im Neuen Testament

Die Evangelisten im Neuen Testament

Im Neuen Testament begegnen uns mehrere Personen, die evangelistische Funktionen ausübten, auch wenn nicht alle explizit als „Evangelisten“ bezeichnet werden:

  1. Philippus: Der einzige ausdrücklich als „Evangelist“ bezeichnete Person (Apostelgeschichte 21,8). Seine evangelistische Tätigkeit wird in Apostelgeschichte 8 beschrieben, wo er in Samaria predigt und den äthiopischen Kämmerer zum Glauben führt.
  2. Die Apostel: Obwohl ihre Rolle umfassender war, übten die Apostel auch evangelistische Funktionen aus. Petrus‘ Pfingstpredigt (Apostelgeschichte 2) ist ein herausragendes Beispiel.
  3. Paulus: Als „Apostel der Heiden“ war er ein herausragender Evangelist, der das Evangelium in weiten Teilen der damaligen Welt verkündete.
  4. Barnabas: Als Begleiter des Paulus teilte er dessen evangelistische Mission.
  5. Timotheus: Wurde von Paulus ermahnt, „das Werk eines Evangelisten“ zu tun (2. Timotheus 4,5).
  6. Die frühen Christen allgemein: Nach der Verfolgung in Jerusalem „zogen die Verstreuten umher und verkündeten das Wort“ (Apostelgeschichte 8,4).

Kennzeichen des evangelistischen Dienstes im Neuen Testament

Der evangelistische Dienst im Neuen Testament zeichnete sich durch folgende Merkmale aus:

  1. Fokus auf die Grundlagen des Evangeliums: Die zentrale Botschaft war der Tod und die Auferstehung Jesu Christi (1. Korinther 15,1-4).
  2. Betonung der Umkehr: Die Aufforderung zur Buße und zum Glauben als notwendige Antwort auf das Evangelium (Apostelgeschichte 2,38).
  3. Kulturelle Anpassung: Paulus wurde „den Juden ein Jude“ und „denen ohne Gesetz wie einer ohne Gesetz“ (1. Korinther 9,19-23).
  4. Kombination von Wort und Tat: Das Evangelium wurde oft von Zeichen und Wundern begleitet (Apostelgeschichte 8,6-7).
  5. Persönlich und öffentlich: Evangelisierung fand sowohl in großen öffentlichen Versammlungen als auch in persönlichen Begegnungen statt.
  6. Kontextuelle Herangehensweise: Die Evangelisten passten ihre Botschaft dem Kontext an – Paulus sprach anders zu Juden (Apostelgeschichte 13) als zu griechischen Philosophen (Apostelgeschichte 17).

Kennzeichen und Funktionen der evangelistischen Gabe

Kennzeichen

Menschen mit der Gabe des Evangelisten zeigen typischerweise folgende Merkmale:

  1. Leidenschaft für Verlorene: Ein tiefes Anliegen für Menschen, die Jesus noch nicht kennen.
  2. Natürliche Kommunikationsfähigkeit: Die Fähigkeit, komplexe geistliche Wahrheiten einfach und verständlich zu erklären.
  3. Überzeugungskraft: Die Fähigkeit, die Relevanz des Evangeliums für das Leben des Einzelnen aufzuzeigen.
  4. Glaubenszuversicht: Ein starkes Vertrauen in die Kraft des Evangeliums, Leben zu verändern (Römer 1,16).
  5. Beziehungsorientierung: Die Fähigkeit, schnell Vertrauen und Verbindungen zu anderen aufzubauen.
  6. Sichtbare Resultate: Die Frucht ihres Dienstes zeigt sich in Menschen, die zum Glauben finden.

Funktionen

Die Gabe des Evangelisten erfüllt im Leib Christi folgende Funktionen:

  1. Effektive Verkündigung: Die klare und kraftvolle Darstellung des Evangeliums.
  2. Mobilisierung: Die Befähigung und Motivation anderer Gläubiger zur Evangelisation.
  3. Ernte-Orientierung: Die Fähigkeit, geistlich reife Menschen zu identifizieren und sie zur Entscheidung zu führen.
  4. Brückenbau: Die Überwindung kultureller und sozialer Barrieren, um das Evangelium zu kommunizieren.
  5. Multiplikation: Die Ausbildung anderer in evangelistischen Fähigkeiten (2. Timotheus 2,2).

Theologische Perspektiven zur evangelistischen Gabe heute

In der Frage, wie die evangelistische Gabe heute verstanden und praktiziert werden sollte, gibt es verschiedene theologische Perspektiven:

1. Die spezialisierte Perspektive

Diese Sichtweise, die in manchen evangelikalen und pfingstlichen Kreisen vertreten wird, betont:

  • Der Evangelist ist eine besondere Berufung und Gabe für relativ wenige.
  • Evangelisten haben eine spezifische Salbung, die sich in einer besonderen Überzeugungskraft äußert.
  • Der evangelistische Dienst wird oft in Form von Evangelisationsveranstaltungen oder -kampagnen ausgeübt.
  • Evangelisten wie Billy Graham werden als moderne Beispiele angeführt.

2. Die universelle Perspektive

Diese Perspektive, die in vielen missional orientierten Gemeinden vertreten wird, betont:

  • Alle Christen sind berufen, evangelistisch zu leben und das Evangelium zu teilen.
  • Die Gabe des Evangelisten befähigt einige, andere für diesen Auftrag auszurüsten (Epheser 4,11-12).
  • Evangelisation geschieht primär im Alltag und in natürlichen Beziehungen.
  • Der Fokus liegt auf ganzheitlicher Mission, die Wort und Tat vereint.

3. Die kontextuelle Perspektive

Diese Perspektive, die in der missionstheologischen Diskussion wichtig ist, betont:

  • Die evangelistische Gabe muss kulturell angepasst ausgeübt werden.
  • Das Evangelium muss in verschiedenen Kontexten unterschiedlich kommuniziert werden.
  • Indigene Formen der Evangelisation sind effektiver als importierte Modelle.
  • Die Gemeinschaft der Gläubigen als Ganzes ist der primäre „Evangelist“.

Die evangelistische Gabe in der heutigen Praxis

Die Gabe des Evangelisten findet heute in verschiedenen Kontexten und Formen Ausdruck:

1. Im persönlichen Zeugnis

  • Natürliche Gespräche über den Glauben
  • Persönliche Lebensberichte (Testimonies)
  • Einladungen zu christlichen Veranstaltungen
  • Gastfreundschaft als Plattform für das Evangelium

2. In gemeinschaftlichen Kontexten

  • Evangelistische Gottesdienste oder Veranstaltungen
  • Alpha-Kurse und ähnliche Glaubensgrundkurse
  • Gemeindegründungsinitiativen
  • Soziale Projekte mit evangelistischer Komponente

3. In medialen Formen

  • Digitale Evangelisation (Websites, Social Media, Online-Kurse)
  • Literaturmission und Verteilung christlicher Medien
  • Radio- und Fernseharbeit
  • Kreative Künste (Film, Musik, Theater) mit evangelistischer Botschaft

4. In beruflichen Kontexten

  • Christliche Berufstätige als Zeugen an ihrem Arbeitsplatz
  • Unternehmer, die biblische Werte in ihre Geschäftspraktiken integrieren
  • Kulturschaffende, die christliche Perspektiven in ihre Arbeit einfließen lassen

Anzeichen der evangelistischen Gabe

Menschen mit evangelistischer Begabung zeigen oft folgende Merkmale:

  1. Natürliche Gesprächsbereitschaft: Sie kommen leicht mit Fremden ins Gespräch.
  2. Besondere Sensibilität: Sie erkennen geistliche Offenheit und Suchende.
  3. Freude am Teilen des Glaubens: Sie erleben das Weitergeben des Evangeliums nicht als Pflicht, sondern als Freude.
  4. Effektive Kommunikation: Sie können das Evangelium klar und relevant erklären.
  5. Optimismus: Sie haben eine positive Erwartung, dass Menschen auf das Evangelium reagieren werden.
  6. Ergebnisorientierung: Sie führen Gespräche gezielt auf eine Entscheidung für Christus hin.
  7. Anpassungsfähigkeit: Sie können ihre Botschaft an unterschiedliche Zuhörer anpassen.

Gefahren und Herausforderungen

Die evangelistische Gabe birgt auch spezifische Versuchungen und Herausforderungen:

  1. Oberflächlichkeit: Die Gefahr, mehr an Quantität (Bekehrungen) als an Qualität (Jüngerschaft) interessiert zu sein.
  2. Manipulation: Die Versuchung, emotionalen Druck oder rhetorische Tricks anzuwenden.
  3. Vernachlässigung der Nacharbeit: Der Fokus auf Bekehrung kann zur Vernachlässigung der weiteren geistlichen Begleitung führen.
  4. Erfolgsdruck: Die Identifikation des eigenen Wertes mit der Zahl der „Bekehrten“.
  5. Anpassung der Botschaft: Die Versuchung, herausfordernde Aspekte des Evangeliums abzuschwächen.
  6. Überaktivität: Das Vernachlässigen des eigenen geistlichen Lebens zugunsten ständiger Aktivität.

Entwicklung und Förderung der evangelistischen Gabe

Die evangelistische Gabe kann auf verschiedene Weise entwickelt und gefördert werden:

  1. Theologische Fundierung: Gründliches Verständnis des Evangeliums und seiner Implikationen.
  2. Praktische Übung: Regelmäßige Gelegenheiten, den Glauben zu teilen.
  3. Mentoring: Begleitung durch erfahrene Evangelisten.
  4. Kulturelles Verständnis: Einsicht in die kulturellen Kontexte derer, denen das Evangelium vermittelt werden soll.
  5. Gebet: Kontinuierliches Gebet für die Verlorenen und für göttliche Gelegenheiten.
  6. Teamarbeit: Zusammenarbeit mit anderen, die komplementäre Gaben haben.
  7. Feedback: Bereitschaft, von anderen zu lernen und konstruktive Kritik anzunehmen.
  8. Kontextuelle Sensibilität: Die Fähigkeit, die Botschaft des Evangeliums für verschiedene Zielgruppen relevant zu kommunizieren.

Biblische Beispiele evangelistischer Wirksamkeit

1. Philippus

Als herausragendes Beispiel eines Evangelisten im Neuen Testament:

  • Er verkündete Christus in Samaria, begleitet von Zeichen und Wundern (Apostelgeschichte 8,5-8)
  • Er wurde vom Geist geleitet, den äthiopischen Kämmerer zu treffen und ihm das Evangelium zu erklären (Apostelgeschichte 8,26-40)
  • Seine evangelistische Arbeit führte später zu seinem Titel als „der Evangelist“ (Apostelgeschichte 21,8)

2. Petrus

Als Apostel mit starker evangelistischer Begabung:

  • Seine Pfingstpredigt führte zur Bekehrung von etwa 3000 Menschen (Apostelgeschichte 2,14-41)
  • Er brachte das Evangelium zum ersten Mal zu den Heiden (Cornelius und sein Haus, Apostelgeschichte 10)
  • Er passte seine Verkündigung dem jeweiligen Publikum an

3. Paulus

Als apostolischer Evangelist:

  • Er entwickelte verschiedene Ansätze für verschiedene Zielgruppen (1. Korinther 9,19-23)
  • Er nutzte öffentliche Plätze wie den Areopag in Athen (Apostelgeschichte 17,22-34)
  • Er kombinierte evangelistische Verkündigung mit Gemeindegründung

4. Die frühe Gemeinde

Als Gemeinschaft mit evangelistischer Ausrichtung:

  • Die Gläubigen, die aus Jerusalem zerstreut wurden, „zogen umher und verkündigten das Wort“ (Apostelgeschichte 8,4)
  • Die Gemeinde in Thessalonich wurde ein Vorbild für andere, da von ihnen „das Wort des Herrn erschollen“ war (1. Thessalonicher 1,8)
  • Die Attraktivität der christlichen Gemeinschaft selbst hatte evangelistische Wirkung (Apostelgeschichte 2,47)

Zusammenfassung

Die Gabe des Evangelisten ist eine besondere Befähigung, die gute Nachricht von Jesus Christus klar, überzeugend und fruchtbar zu kommunizieren. Sie zeigt sich in der Fähigkeit, das Evangelium so zu präsentieren, dass Menschen unterschiedlicher Hintergründe es verstehen können und sich zu einer Entscheidung für Christus herausgefordert fühlen.

Während alle Christen zum Zeugnis berufen sind, haben Personen mit der Gabe des Evangelisten eine besondere Effektivität in diesem Bereich und oft auch die Fähigkeit, andere für die evangelistische Aufgabe auszurüsten. Die Gabe kann sich in verschiedenen Formen und Kontexten äußern – von persönlichen Gesprächen über öffentliche Verkündigung bis hin zu kreativen und medialen Ausdrucksformen.

In einer zunehmend pluralistischen und post-christlichen Gesellschaft ist die evangelistische Gabe von großer Bedeutung, erfordert aber auch kulturelle Sensibilität, theologische Tiefe und eine authentische Verkörperung der Botschaft, die verkündet wird.

Schlüsselverse zur evangelistischen Gabe

  • Matthäus 28,19-20: Der Missionsbefehl Jesu
  • Markus 16,15: „Geht hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“
  • Lukas 24,46-49: Der Auftrag, Umkehr und Vergebung der Sünden zu predigen
  • Johannes 20,21: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“
  • Apostelgeschichte 1,8: Die Verheißung, Zeugen zu sein bis an die Enden der Erde
  • Apostelgeschichte 2,14-41: Petrus‘ Pfingstpredigt als Beispiel evangelistischer Verkündigung
  • Apostelgeschichte 8,4-8: Philippus predigt in Samaria
  • Apostelgeschichte 8,26-40: Philippus und der äthiopische Kämmerer
  • Apostelgeschichte 10: Petrus bringt das Evangelium zu Cornelius
  • Apostelgeschichte 13-14: Die erste Missionsreise von Paulus und Barnabas
  • Apostelgeschichte 16,14-15: Die Bekehrung der Lydia
  • Apostelgeschichte 17,16-34: Paulus in Athen
  • Apostelgeschichte 21,8: Philippus wird als „der Evangelist“ bezeichnet
  • Römer 1,16: Das Evangelium als Kraft Gottes zur Errettung
  • Römer 10,14-15: „Wie sollen sie hören ohne einen Prediger?“
  • 1. Korinther 1,17: Paulus von Christus gesandt, das Evangelium zu predigen
  • 1. Korinther 9,16: „Denn dass ich das Evangelium predige, dessen darf ich mich nicht rühmen; denn ich muss es tun“
  • 1. Korinther 9,19-23: Paulus‘ Anpassungsfähigkeit in der Evangelisation
  • 1. Korinther 15,1-8: Die Grundelemente des Evangeliums
  • 2. Korinther 5,18-20: Der Dienst der Versöhnung und Botschafter Christi
  • Epheser 4,11: Evangelisten als Gabe Christi an seine Gemeinde
  • Epheser 6,15: „Beschuht an den Füßen mit der Bereitschaft für das Evangelium des Friedens“
  • Philipper 1,12-18: Die Verkündigung des Evangeliums als Hauptanliegen
  • Kolosser 4,2-6: Gebet für offene Türen und weise Kommunikation
  • 1. Thessalonicher 1,5-8: Das vorbildliche Zeugnis der Thessalonicher
  • 2. Timotheus 4,1-5: „Tu das Werk eines Evangelisten“
  • 1. Petrus 3,15-16: Bereit sein, Rechenschaft über die Hoffnung zu geben